15 Mai 2013 9 Comments
Der programmierte Schüler
Der 17-Jährige Schüler Jonas Hertel hat ein Buch darüber geschrieben, was in Schulen falsch läuft. In „Der programmierte Schüler“ macht er deutlich, wie Jugendlichen die Lust am Lernen genommen wird. Unsere Bloggerin Ina Bigalke hat es gelesen. Eine Rezension.
Wenn z1=m1, dann m2=z2. Das ist die Formel, mit der Schulnoten die Köpfe von Schülern programmieren. Das geht ganz einfach: Bewertet man die Neugier und den Wissensdurst eines Schülers (z1) häufig genug mit Noten (m1), wird das ursprüngliche Ziel des Schülers, etwas Neues zu entdecken, durch das Ziel, eine bestimmte Note zu erreichen (m2) ersetzt. Ein Schüler beginnt darauf hin, nicht mehr um des Wissens willen zu lernen, sondern für gute Noten zu arbeiten (z2). Gibt man ihm im Anschluss keine Noten mehr, wird er aufhören zu lernen.
Warum dieser unscheinbare psychologische Effekt Sand im Getriebe unseres Bildungssystems ist, erklärt uns der Schüler Jonas Hertel und stellt in seinem E-Book Der programmierte Schüler – Was in der Schule wirklich läuft und was wir sofort dagegen tun können das deutsche Bildungssystem vor Gericht.
Anklage
Ironisch überspitzt wirft er unserem Bildungssystem vor, Noten dazu einzusetzen, Schülern die Begeisterung am Entdecken auszutreiben und sie dazu zu bringen, den trockenen Schulstoff mechanisch abzugrasen und Gelerntes in Klassenarbeiten wiederzukäuen, für das sie im realen Leben kaum Verwendung finden. Er nennt Noten ein Verbrechen und zeigt, wie sich Schüler durch sie nicht nur dirigieren, sondern auch definieren lassen.
Auch legt er dem Bildungssystem zur Last, durch Missbilligung von Fehlern Lernangst und daraus folgend Lernhass zu provozieren und Schüler_innen so in ihrer persönlichen Entwicklung zu stören. Diese Störung sei so nachhaltig, dass sie selbst als Erwachsene noch mit den Spätfolgen ihrer Schulzeit kämpfen und ein gespaltenes Verhältnis zum Lernen zeigen.
Beweisführung
Beweise holt sich der schulpflichtige Ankläger aus der Hirnforschung und zitiert im sauberen Stil einer Belegarbeit Werke wie Dwecks „Selbstbild“, Watzlawicks „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ und Csikszentmihalyis „Flow: Das Geheimnis des Glücks“. Dabei erklärt er neurologische, psychologische und philosophische Ansätze anschaulich und zeigt wie diese mit den Problemen unseres Bildungssystems in Zusammenhang stehen. Seine Ausführungen ergänzt er stilsicher mit Vergleichen, Sprachbildern, Beispielen und Illustrationen und meistert es, die Balance zwischen Ironie und Sachlichkeit zu halten.
Plädoyer
Obwohl für Jonas Hertel feststeht, dass das deutsche Schulsystem in allen Punkten der Anklage schuldig zu sprechen ist, richtet er sich in seinem Schlussplädoyer nicht nur an politische Akteure, sondern auch an seine Mitschüler_innen. Er macht ihnen Mut, den ersten Schritt zu tun, den Schulhass hinter sich zu lassen und die Freude am Lernen für sich allein zurückzugewinnen. Er fasst sich an die eigene Nase und beweist mit seinem sorgfältig zusammengestellten Werk, dass seine Lust am Lernen auch unter schwierigen Bedingungen gedeiht.
Als Leserin kann ich nur hinzufügen: Danke Jonas. Gute Arbeit. Diese Freude am Lernen, aber auch am sich Einmischen, ist es, die wir brauchen, um die Hürden in unserem Schulsystem zu überwinden. Ich hoffe, dass dieses Werk seinen Weg in die E-Reader möglichst vieler Schüler_innen und Ex-Schüler_innen findet.
15. Mai 2013 @ 14:44
Eine Rezension, die neugierig macht – herzlichen Dank dafür!
Ist ja auch höchste Zeit, dass die Schüler das Wort ergreifen …
Herzliche Grüße, Ulrike
15. Mai 2013 @ 14:57
Oh … ich hab und will keinen Kindle-Reader … Gibt’s einen alternativen Weg, das E-Book lesen zu können?
15. Mai 2013 @ 15:09
Ganz einfach die Kindleapp auf deinen Laptop oder dein Smartfone laden und los gehts… Kann man auch wieder entfernen wenn mans nicht mehr braucht, ist kostenlos…
Aber vorerst scheint es nur bei Amazon erhältlich zu sein.
15. Mai 2013 @ 16:06
Hi Ina,
danke für die schnelle Antwort … Kindleapp, wieder was gelernt ;-)
15. Mai 2013 @ 21:10
Danke, hübsche kritik und Idee. Einziges Problem tatsächlich: Das system ist unreformierbar. Es wird sich nur bewegen, wenn seine Akteure anfangen zu opponieren. das ist noch nciht ganz absehbar… Schule ist eines der ganz großen Tabus unserer Zeit! Sie amcht betriebsblind, weil jeder sie erlitten hat. Die Idee, man könne Menschen per Schulpflicht zum Lernen zwingen ist an sich absurd, aber sehr alt. Aber: Steter Tropfen :-) Deshlab Danke!
16. Mai 2013 @ 10:10
Gregor, ich widerspreche mal augenzwinkernd ;-)
Mit großer Wahrscheinlichkeit würde sich das System sogar SELBST reformieren, wenn … man die Freiheit hätte wegzugehen! Das ist im Grunde so banal und geschichtlich mehrfach bewiesen … und so direkt vor der Nase liegend ;-)
http://place2grow.de/freedom-to-quit/
Was hält einen Schüler davon ab? Was hält Erziehungsberechtigte davon ab, ihren Kindern das zu erlauben / sie zu unterstützen?
WAS ist WIRKLICH die Angst?
Ich finde es immer wieder superspannend, sich das GANZ EHRLICH zu fragen … sich selbst zu hinterfragen … und dann über die Antwort zu staunen.
Traut sich jemand, seine Antwort zu verraten?
26. Mai 2013 @ 12:24
Danke für die Rezension. Sie macht wirklich Lust auf mehr…
Es wird Zeit für Veränderungen im Schulsystem – und warum nicht jemanden fragen, der sich damit auskennt?
Meckern kann jeder, aber wenn man dann auch noch Lösungsvorschläge anbieten kann – RESPEKT!
Ich widerspreche Gregor ebenfalls. ;-)
Warum nicht einfach den Mut haben, etwas Neues auszuprobieren?
Es gibt doch schon Schulen, in denen es anders läuft. Und diesen Schulen werden die Türen eingerannt. Interesse scheint es also zu geben.
5. Juni 2013 @ 19:39
Ich werde mir das Buch auch anschaffen. Aus diesem Grund:
Was Jonas Hertel da in seinem Buch beschreibt (lt.Rezension) werden viele Schüler und ehemalige Schüler bestätigen können.
In der Schule fällt keine Wertebildung an. Werte werden nicht mehr vermittelt, Werte gehen unter – unter dem Druck der Wissensvermittlung im Interesse der Wirtschaft.
Das Ergebnis ist der durchökonomisierte Mensch, Ego getrieben, wirtschaftlich verwertbar…sonst nichts.
Eine äußerst gefährliche Entwicklung, die Gesellschaften auf Dauer zerstört.
8. Oktober 2014 @ 00:43
Sehr interessantes Thema, das letztlich auf der Frage nach der Motivation für schulisches Handeln gründet: Sind es extrinsische Motive (Schulnoten) oder intrinsische Motive (Lust am Lernen), die handlungssteuernd wirken? Wer für sich den Switch schafft, das Lernen mit persönlicher Entwicklung oder Zufriedenheit zu assoziieren, wird sich den Weg zum lebenslangen Lernen eröffnen.
Klar, dass das nicht jedem gleich bewusst ist. Vielleicht ist es auch sehr anspruchsvoll zu nennen, derartig grundlegende Motivationen bei Schülern anzudenken. Aber ich gehe davon aus, dass Schüler wie Jonas Hertel kein Einzelfall sind. Er hat ja mit seinem forschenden Werk bewiesen, dass die Suche nach selbstständigem Denken, ja: kritischer Müdigkeit, schon als Jugendlicher wundervoll Früchte tragen kann. Herzlichen Glückwunsch dazu :)
Grüße,
Jan-Benedikt Kersting