17 Jan 2013 6 Comments
Das Bachelorstudium als Unterschichtenbildung?
An Universitäten ist mit der Einführung der Bachelorstudiengänge ein „heimlicher Lehrplan“ entstanden. Neben dem Studieren steht das Überleben in der bürokratische Hochschule im Fokus. Davon profitieren vor allem Akademikerkinder. Ein Gastbeitrag des Soziologen Stefan Kühl.
An den Universitäten und Fachhochschulen lässt ‒ abgesehen von einzelnen Rektoren und Präsidenten ‒ kaum jemand ein gutes Haar an der Bologna-Reform. Unterstützung für die Reform kommt, wenn überhaupt, noch von außerhalb der Hochschulen – von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, von unternehmensnahen Stiftungen und von einzelnen Journalisten. Von Letzteren wird jetzt ein neues Argument in die Bologna-Diskussion eingebracht: Bei der Bologna-Reform möge vieles im Argen liegen, aber sie berge das „Potenzial, die Hochschulen gerechter zu machen“, wie Bernd Kramer in der taz schreibt.
Die alten Magister- und Diplomstudiengänge seien einfach nichts für den „Sohn der Verkäuferin und die Tochter des Bäckers“ gewesen, weil diese aus bildungsfernen Schichten stammenden Studierenden in den „dahinwabernden Selbstlernprogrammen“ der alten Unis untergegangen seien. Durch ein klar strukturiertes Bachelor- und Masterstudium würden die Universitäten jetzt endlich Kinder aus den Schichten der Gesellschaft anlocken, die bisher vor einem Studium zurückgeschreckt seien. Je stärker die Verschulung des Studiums ‒ so der Tenor ‒ desto mehr bekommen wir die Kinder aus den Unterschichten in die Hochschulen.
Der heimliche Lehrplan
Die Verfechter der Bologna-Reform haben dabei an einem Punkt sicherlich recht. In vielen Diplom- und Magisterstudiengängen wurden Qualifikationen verlangt, die in den Hochschulen selbst nicht systematisch vermittelt wurden. Studierende lernten nicht nur Germanistik, Physik oder Soziologie, sondern sie mussten sich vom ersten Semester an auch ihr Studienprogramm selbst zusammenstellen, sich in einer häufig anonym wirkenden Massenuniversität Lernkontakte aufbauen und sich selbst motivieren, schriftliche Arbeiten anzufertigen, auch wenn kein Lehrender einen Prüfungsdruck aufgebaut hat.
Mit dem US-amerikanischen Erziehungswissenschaftler Philip W. Jackson lässt sich die Aneignung dieser Fertigkeiten als der „heimliche Lehrplan“ in den alten Studienstrukturen beschreiben. Viele Studierende – sowohl aus bildungsfernen als auch bildungsnahen Schichten ‒ sind an den Anforderungen dieses heimlichen Lehrplans gescheitert. Diejenigen Studierenden jedoch, die unter diesen Bedingungen ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben, konnten am Ende nicht nur Germanistik, Physik oder Soziologie, sondern verfügten nicht selten auch über Selbstorganisations- und Selbstmotivationsfähigkeiten, von denen sie später im Berufsleben profitierten.
Im Zuge der Bologna-Reform wurde mit der Reduzierung der Wahlfreiheiten, der Verschärfung der Anwesenheitspflicht und der Inflation von Prüfungen dieser „heimliche Lehrplan“ abgeschafft. In den meisten Bachelorstudiengängen beschweren sich Studierende nicht mehr über ein Zuviel an Wahlfreiheit, sondern beklagen sich bestenfalls noch darüber, dass sie wie Lerndrohnen auf Knopfdruck kurzfristig angeeignetes Prüfungswissen wiedergeben müssen. Die Verschulung à la Bologna hat dabei eher zu einer Verschlechterung der Betreuung geführt, weil in den meisten Studiengängen die gleiche Anzahl von Lehrenden mehr Veranstaltungen anbietet und mehr Prüfungen abnimmt. Es gibt Studiengänge, in denen Lehrende zwar zu Beginn jeder Sitzung die körperliche Präsenz der Studierenden mit Anwesenheitslisten überprüfen, den Großteil ihrer Studierenden aber trotzdem nicht mit Namen ansprechen können, wenn sie ihnen in der Mensa begegnen.
Trotz einer Erhöhung der „Kontaktzeiten“ mit Lehrenden haben Studierende am Ende eines drei- oder vierjährigen Studiums häufig mit keinem einzigen Dozenten und keiner einzigen Dozentin ein Gespräch über ihre individuellen Stärken und Schwächen geführt, geschweige denn mit ihnen ein zum Studiengang passendes individuelles Lernkonzept erarbeitet. Trotz Erhöhung des Prüfungsaufwandes für Studierende gibt es in vielen Universitäten immer weniger individuelle Rückmeldungen zu den von den Studierenden geschriebenen Essays, Hausarbeiten und Klausuren, weil die Lehrenden mit der Korrektur der in Massenveranstaltungen abgelegten Prüfungen kaum noch hinterherkommen.
Neuer Fokus: Überleben in der bürokratisierten Hochschule
Angesichts dieser Studienbedingungen bildet sich in der deutschen Variante der Bologna-Reform ein neuer „heimlicher Lehrplan“ aus. Studierende und Lehrende werden seit der Bologna-Reform mit einer kafkaesk wirkende Bildungsbürokratie konfrontiert. Von Bachelorstudierenden wird – so jedenfalls die Planungsphantasie – verlangt, dass sie genau 5400 Stunden für ihren Abschluss studieren müssen. Diese 5400 Stunden werden durch eine permanent wachsende Anzahl von Studienadministratoren in Module mit vermeintlich klar definierten Lernzielen aufgeteilt und jedes Modul inklusive Selbststudiumsanteil stundengenau vorausgeplant. Die bürokratisch korrekte Absolvierung des Studiums wird dann durch IT gestützte Campus Management Systeme überprüft und am Ende dann durch den Rechner ein Zertifikat ausgespuckt.
Studierende lernen jetzt – so der neue „heimliche Lehrplan“ – wie sie in hochbürokratisierten Organisationen unter Überlastungsbedingungen zu arbeiten haben. Wo bekommt man nach Vergleich der verschiedenenfächerspezifischen Bestimmungen eines Studiengangs möglichst günstig Leistungspunkte her? Wie stark muss man sich an die häufig über hunderte von Seiten langen Modulhandbücher eines Studiengangs halten? Wo lohnt es sich, mit dem Verweis auf eine Klage vor Gericht bei Dozenten eine zweite oder dritte Prüfungsmöglichkeit einzufordern? Die Amerikaner nennen die Fähigkeiten, die sich in der Auseinandersetzung mit solchen Fragen entwickeln, „How to Work the System“ – Wie kann man bei möglichst geringem Aufwand möglichst viel aus einem System herausholen.
Das mögen Fähigkeiten sein, die bei späteren Tätigkeiten in Großbürokratien wie der Deutschen Bank, der Deutschen Bahn oder der Bundesagentur für Arbeit besonders gefragt sind. Die Aneignung dieser Fähigkeiten dürfte aber wohl gerade Studierenden aus jenen Bildungsschichten leichtfallen, die weniger Angst vor dem Kontakt mit bürokratischen Großorganisationen haben. Und das ist sicherlich eher der Juristensohn als die Bäckerstochter.
Hinweise des Tages | NachDenkSeiten – Die kritische Website
18. Januar 2013 @ 10:27
[…] Das Bachelorstudium als Unterschichtenbildung? An Universitäten ist mit der Einführung der Bachelorstudiengänge ein “heimlicher Lehrplan” entstanden. Neben dem Studieren steht das Überleben in der bürokratische Hochschule im Fokus. Davon profitieren vor allem Akademikerkinder. Ein Gastbeitrag des Soziologen Stefan Kühl. An den Universitäten und Fachhochschulen lässt ‒ abgesehen von einzelnen Rektoren und Präsidenten ‒ kaum jemand ein gutes Haar an der Bologna-Reform. Unterstützung für die Reform kommt, wenn überhaupt, noch von außerhalb der Hochschulen – von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, von unternehmensnahen Stiftungen und von einzelnen Journalisten… Studierende lernen jetzt – so der neue „heimliche Lehrplan“ – wie sie in hochbürokratisierten Organisationen unter Überlastungsbedingungen zu arbeiten haben. Wo bekommt man nach Vergleich der verschiedenenfächerspezifischen Bestimmungen eines Studiengangs möglichst günstig Leistungspunkte her? Wie stark muss man sich an die häufig über hunderte von Seiten langen Modulhandbücher eines Studiengangs halten? Wo lohnt es sich, mit dem Verweis auf eine Klage vor Gericht bei Dozenten eine zweite oder dritte Prüfungsmöglichkeit einzufordern? Die Amerikaner nennen die Fähigkeiten, die sich in der Auseinandersetzung mit solchen Fragen entwickeln, „How to Work the System“ – Wie kann man bei möglichst geringem Aufwand möglichst viel aus einem System herausholen. Das mögen Fähigkeiten sein, die bei späteren Tätigkeiten in Großbürokratien wie der Deutschen Bank, der Deutschen Bahn oder der Bundesagentur für Arbeit besonders gefragt sind. Die Aneignung dieser Fähigkeiten dürfte aber wohl gerade Studierenden aus jenen Bildungsschichten leichtfallen, die weniger Angst vor dem Kontakt mit bürokratischen Großorganisationen haben. Und das ist sicherlich eher der Juristensohn als die Bäckerstochter. Quelle: Was bildet ihr uns ein? […]
18. Januar 2013 @ 11:25
Das ist absoluter Schwachsinn. Ich war in einem BA-Studiengang an einer technischen Hochschule und hatte sehr wohl Gespräche mit Professoren und habe noch während des Studiums Fächer getauscht entsprechend meinen Vorlieben. Der BA + MA hatte sogar noch den riesen Vorteil gegenüber Diplom, dass ich nach dem BA noch den Studiengang wechseln konnte in eine bessere Spezialisierung.
Für den Lernerfolg im Studium sind folgende Dinge von entscheidender Bedeutung: Intelligenz, Leistungsbereitschaft, Curriculum, Engagement der Prof. und Mitarbeiter. Die Organisationsform des Studium spielt dagegen eine zu vernachlässigende Rolle. Für die individuelle Kommunikation ist vor allem entscheidend: Größe der Uni, Anzahl der Studenten im Studiengang. Je größer beides, desto schwieriger ist es mit seinen Professoren in Kontakt zu treten.
Ich habe an der Zeitlast Studie teilgenommen, deren Ergebnis war, dass die meisten Studenten weniger als 30 Stunden pro Woche tatsächlich mit Studieren beschäftigt sind. Die Arbeitsbelastung ist nicht wesentlich gestiegen durch BA+MA.
18. Januar 2013 @ 16:37
Flow:
– nicht jeder kann an eine kleine Uni gehen, wie Du offenbar konntest
– bei der mit Studieren verbrachten Zeit wird mit Sicherheit eben nicht das Bewältigen des bürokratischen Drumherum mit einbezogen, da es ja auch nicht wirklich Studieninhalt ist
– ebenso wenig wird in dieser Studie nach regionalen Unterschieden differenziert worden sein: an einer sogn. Exzellenzuni ermöglicht das Budget ganz andere Verhältnisse, aber dazu zählen in Deutschland nur 11 von knapp 250, also eine zu vernachlässigende Minderheit ohne repräsentativen Wert
– muss man erkennen (geht dem Artikel auch etwas ab), dass die Organisation nach BA/MA in manchen Studiengängen an manchen Unis gut geklappt hat, anscheinend für den Großteil der Einrichtungen aber teils starke Verschlechterungen gebracht hat
– gibt es einen Unterschied in gesellschaftswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Fächern (qualitativ), der durch BA/MA eindeutig noch verschärft worden ist statt beseitigt zu werden
– ist allgemein nachweisbar, dass insgesamt Stellen im Mittelbau abgebaut worden sind bei gleichzeitig teils starker Zunahme der Studierendenzahlen, woraus unmöglich eine Verbesserung der Betreuung erwachsen sein kann
– würde ich sagen: Du hattest durchaus einfach Glück. Dass man das haben muss, um ein gutes Studium gehabt zu haben ist schon der Kern des Problems. Einer der von Dir genannten Punkte von entscheidender Bedeutung (Engagment der Profs und Mitarbeiter) ist nämlich zunehmend Glückssache geworden, was wiederum bedeutet, dass die „organisierte Massenbildung“ an Qualität verloren hat.
20. Januar 2013 @ 19:31
Der entscheidende Punkt ist doch, dass die Lehre an den Universitäten überall unterfinanziert ist. Wir geben einfach zu wenig Ressourcen für Bildung aus. Die Ideologie trommelt uns ein, dass Bildung vergeudete Zeit ist.
Der Bachelor ist doch auch nur ein Sparprogramm, um Studenten möglichst schnell durch die Uni zu schleusen. Und es funktioniert. Studenten sind nach dem Bachelor froh, endlich dem Hamsterrad von 6 Prüfungen pro Semester zu entrinnen. Die Folge: Die Masterprogramme kämpfen allerorten um das Überleben, besonders aber an den kleinen Unis.
Es wurde seitens der Professoren gefordert, den Bachelor auf 8 Jahre auszudehnen, um so wenigstens halbwegs den Standard des Diploms zu erreichen, und den Studenten Zeit zur Reifung zu lassen. Das Gegenargument war immer, die Studienzeiten zu verkürzen.
5. März 2013 @ 20:48
„How to Work the System“ trifft komplett zu, aber ob das jetzt speziell bestimmten bevölkerungsgruppen vorteile bringt? das finde ich dann doch etwas an den haaren herbeigezogen, man könnte genauso argumentieren, dass eine 2.generation-harz4 familie vorteile hätte, weil diese schon erfahrung mit bürokratie (in der arbeitsargentur) hat.
außerdem ist es fragwürdig, den lehrplan der universitäten (ganz unabhängig davon, wie sinnvoll er ist) aufgrund von unterschiedlichen qualifikationen der einsteiger zu kritisieren. zum einen sind dafür die schulen zuständig, zum anderen müsste man die kritik darauf basieren lassen, was der lernstoff mit dem studium bzw. dem abschluss und der arbeitswelt zu tun hat.
9. März 2013 @ 20:04
Also selten so eine abenteuerliche Argumentation gelesen.
Genausogut könnte man argumentieren, daß der verwöhnte Akademikernachwuchs organisatorische Widerstände nicht gewohnt ist und sich somit mit den nicht-fachlichen Herausforderungen des Studiums schwerer tut als der Arbeitersohn/die Arbeitertochter, die sich mit viel Einsatz das Studium gesichert hat. Es war immer schon bürokratisch an Unis, zu meiner Zeit war es der Kampf um die Vorlesungsskripte …