04 Okt 2012 3 Comments
Was ist schon gerecht?
Schüler_innen haben ihre eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Warum dies so ist und welche Konsequenzen es haben kann, wenn Lehrkräfte dies nicht beachten, hat der Psychologe Felix Peter in einer Studie untersucht. Im Ergebnis plädiert er für eine offene Diskussionskultur an Schulen.
Gerechtigkeit ist etwas, was die Menschen umtreibt, wofür sie kämpfen, was sie täglich einfordern. „Das ist doch unfair!“ – Diesen Satz nehmen wir relativ oft in den Mund, um darauf hinzuweisen, dass ein Ereignis unserem Gerechtigkeitssinn zuwiderläuft. Doch was ist eigentlich „gerecht“? Was ist Gerechtigkeit? Die Psychologie gibt darauf eine auf den ersten Blick relativ einfache Antwort: Gerecht ist das, was als gerecht erlebt wird.
Auf den zweiten Blick birgt diese Antwort allerdings Komplikationen – gerade für jene Menschen, denen Gerechtigkeit besonders am Herzen liegen sollte, da sie ihr beruflich verpflichtet sind. Dazu gehören insbesondere all jene, die im Alltag andere Menschen bewerten (müssen), sei es in der Rechtsprechung, beim Jugendamt, im Sport oder auch in der Schule. Vor allem von Lehrkräften wird ein hohes Maß an Gerechtigkeit in ihrem Verhalten eingefordert, nicht zuletzt weil die Schule selbst als Institution der Gerechtigkeit verpflichtet ist.
Die Arbeit von Lehrkräften wäre um ein Vielfaches einfacher, wenn sie wüssten, was genau gerecht ist. Dann gäbe es klare Handlungsvorgaben, nach denen sie sich nur richten müssten. Sicherlich haben Lehrkräfte klare Vorstellungen, was für sie gerecht ist und was nicht. Zudem liefert ihnen die Pädagogik einen bunten Strauß an Empfehlungen, nach denen sie handeln können.
Es kommt auf den Blickwinkel an
Doch so einfach ist es nicht. Denn was eine Lehrkraft als gerecht erachtet, muss von Lernenden nicht automatisch als gerecht empfunden beziehungsweise erlebt werden: So kann eine Auseinandersetzung zwischen einem Lehrer und einem Schüler vom Lehrer, vom Schüler und von eventuell beobachtenden anderen Schülern ganz unterschiedlich beurteilt werden. Der Lehrer könnte zu dem Schluss kommen, er würde gerecht handeln, der Schüler könnte sich ungerecht behandelt fühlen, die beobachtenden Schüler könnten zu dem ein oder dem anderen Urteil gelangen oder den Vorgang gar nicht mit Gerechtigkeit in Verbindung bringen.
Warum kann dieselbe „objektive“ Situation von unterschiedlichen Personen so unterschiedlich bewertet werden? Wie wir unsere Umwelt und Vorgänge darin bewerten, ist das Ergebnis eines Erlebensprozesses, der mit der bloßen Reizaufnahme beginnt, aber nicht aufhört. So wird in der Psychologie davon ausgegangen, dass je nach individueller Veranlagung, Entwicklung oder Persönlichkeit scheinbar „objektive“ Umweltreize subjektiv gefiltert oder verzerrt und somit unterschiedlich verarbeitet werden. Am Ende eines solchen Prozesses steht nun beispielsweise ein Lehrer, der einen Tadel für gerecht(fertigt) hält, ein Schüler, der das Gegenteil empfindet, und der Rest der Klasse, dem das alles eventuell sogar egal ist.
Forschungsarbeiten haben in verschiedenen kulturellen Kontexten Belege dafür geliefert, dass Menschen unbewusst daran glauben, in einer Welt zu leben, in der es gerecht zugeht. Sie haben also die intuitive Vorstellung, dass ihnen und anderen Menschen Gerechtigkeit widerfährt, wobei diese Vorstellung von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt ist. Sie wirkt am oben beschriebenen Erlebensprozess als eine Art kognitiver Filter mit, der dafür sorgt, dass objektiv gleiche gerechtigkeitsbezogene Umwelteindrücke eine subjektive Färbung erhalten, also unterschiedlich verarbeitet und interpretiert werden.
Man kann sich eine solche Vorstellung wie eine Sonnenbrille vorstellen: Diese ist in unterschiedlichen Tönungsstufen und Glasfarben erhältlich und sorgt somit dafür, dass bei Besitzern verschiedener Brillenarten dasselbe Licht unterschiedlich erlebt wird: mal heller oder dunkler, eher bläulich oder grün. Ebenso wirken auch verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen: Menschen, bei denen sie stärker ausgeprägt sind, erleben Ereignisse in ihrer Umwelt als gerechter und ihre Umwelt insgesamt sogar positiver. Je stärker Schüler_innen beispielsweise daran glauben, in einer Welt zu leben, in der es für sie persönlich gerecht zugeht, als desto gerechter erleben sie ihre Lehrkräfte und Mitschüler und desto mehr vertrauen sie darauf, von ihren Mitmenschen gerecht behandelt zu werden.
Der Gerechtigkeitssinn bestimmt den Erfolg mit
In einer aktuellen Schulstudie konnte empirisch belegt werden, dass diese Funktion verschiedene positive Konsequenzen für Schüler_innen haben kann. So schätzten jene Schüler_innen, deren Gerechtigkeitsvorstellungen stärker ausgeprägt waren, das Verhalten ihrer Lehrkräfte als gerechter ein. Sie erlebten zudem das Sozialklima in ihrer Klasse positiver, fühlten sich wohler und weniger ausgeschlossen, zeigten eine größere Bereitschaft zu lernen und bessere Zensuren. Kurzum: Bei ihnen waren zentrale Voraussetzungen zur erfolgreichen Bewältigung des Schulalltags und der Schulkarriere stärker ausgeprägt, als bei ihren Mitschülern mit schwächeren Gerechtigkeitsvorstellungen. Sie profitierten somit von ihrer positiv gefärbten Sonnenbrille.
Was ist nun aber mit jenen Schüler_innen, deren Gerechtigkeitsvorstellungen weniger stark ausgeprägt sind? Für sie ist zu erwarten, dass sie ihre schulische Umwelt, insbesondere das Verhalten ihrer Lehrkräfte ihnen gegenüber als weniger gerecht erleben. In der Folge fühlen sie sich weniger wohl und sind weniger motiviert und es ist für sie wahrscheinlicher, dass sie die Schule weniger erfolgreich durchlaufen werden. Um eine solche Abwärtsspirale zu vermeiden ist es für Lehrkräfte wichtig, sich nicht nur aus ihrer Sicht gerecht zu verhalten, sondern auch die Perspektive(n) ihrer Schützlinge im Blick haben.
Sind sich Lehrkräfte ihrer eigenen Subjektivität bewusst und akzeptieren sie diese, ist das ein erster Schritt hin zu einer gerechteren Schulumwelt. Der zweite Schritt wäre dann die Schaffung eines offenen Diskussionsklimas, das einen gemeinsamen Austausch über subjektive Gerechtigkeitsurteile in der Klasse ermöglicht. Ein dritter Schritt wäre schließlich eine gegenseitige Anerkennung, Verständigung und gegebenenfalls Ableitung von Regeln und Leitlinien für den Umgang miteinander. Profitieren würden davon alle Schüler_innen, ob nun mit oder ohne mehr oder weniger vorteilhaften Sonnenbrillen.
Mehr zum Thema: Peter, Felix (2012): Die Bedeutung intuitiver Gerechtigkeitsvorstellungen für Schülerinnen und Schüler: Eine mehrebenenanalytische Längsschnittuntersuchung zur Wechselwirkung von implizitem Gerechtigkeitsmotiv und schulischer Umwelt. Hamburg: Kovač.
9. Oktober 2012 @ 12:36
Gerechtigkeit ist keine Grundlage für eine Weltanschauung und dementsprechend „widerfährt“ Gerechtigkeit uns nicht. Gerechtigkeit ist das Produkt unserer gemeinsamen aktiven Bestrebungen nach Gerechtigkeit. Um Gerechtigkeit anstreben zu können, muss man wissen, dass und in welchen Dimensionen Gerechtigkeit Gleichheit bedeutet. Und sie darf einem natürlich auch nicht egal sein! Die meisten „unterschiedlichen“ Vorstellungen von Gerechtigkeit, die heute im Umlauf sind, sind aber schlicht falsche Vorstellungen. Beispielsweise hört man oft, Solidarität sei „keine Einbahnstraße“; doch der das behauptet, hat von Solidarität und damit von der damit angestrebten Gerechtigkeit keinen blassen Schimmer. Ein besonders übles Missverständnis ist, dass Gerechtigkeit mit Fairness gleichzusetzen sei, was wohl (u.a.) auf John Rawls zurückgeht, der mit einem gleichnamigen Buch seine gescheiterte Theorie der Gerechtigkeit nur weiter verschlimmbesserte. Fairness bezieht sich lediglich auf eine unmittelbare Regelauslegung im laufenden Prozess, etwa bei einem konkreten Fußballspiel, darum auch „Fair Play“. Bei der Gerechtigkeit aber geht es um die a priori Ausgestaltung eines die ganze Gesellschaft umfassenden Regelwerks. Beispiel: Ein Stundenlohn von 5 Euro im Friseurhandwerk ist bestimmt fair: Der konkrete einzelne Friseurladen bleibt wettbewerbsfähig und die konkrete Friseurin bekommt immerhin irgendeinen Stundenlohn. Gerechtigkeit erhalten wir aber erst ab 12,50 Euro Stundenlohn aufwärts, da man als Lohnabhängige_r mindestens so viel braucht, um ein menschenwürdiges Leben führen und Altersarmut vermeiden zu können. Außerdem ist der einzelne Friseurladen kein Selbstzweck, sondern muss als Teil des die Dienstleistung des Frisierens insgesamt abedeckenden Branchennetzwerks angesehen werden, das – wenn die Menschen tatsächlich nicht mehr als bis zu einer gewissen Obergrenze in ihre Frisur investieren wollen (oder können!!!) – eben nur bis zu einem gewissen Umfang von n Friseurläden betrieben werden kann. Der (n+1)-te wäre überflüssig. Oder nehmen wir die Bundesliga: Spielen in 8 Partien 16 Mannschaften fair, während eine Mannschaft in der 9. Partie unfairerweise gewinnt und womöglich die Tabellenführung erringt, dann konstatieren wir 17 faire Teams, 8 faire Spiele – aber eine ungerechte Bundesliga!
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